Archiv | September, 2012

Sächsischer Dialekt, verobjektivierter Empfängerhorizont und die Eurokrise – AG Stuttgart – Bad Cannstatt 12 C 3263/11 –

16 Sept

Wie tückisch es sein kann, wenn man unverfälschten Dialekt spricht, zeigt ein Urteil des Amtsgerichts Stuttgart – Bad Cannstatt dem folgender Sachverhalt zugrunde lag:

Eine Sächsin wollte in einem Reisebüro in Stuttgart – Bad Cannstatt telefonisch eine Reise nach Porto buchen. Da sie dies in unverfälschtem Sächsisch tat und Porto mit „Bordoo“ aussprach, gab die Reisebüromitarbeiterin eine Reise nach Bordeaux in ihren Computer ein. Auf ihre zweimalige Nachfrage hin, ob die reiselustige Sächsin wirklich nach Bordeaux wolle und diese das bestätigte, buchte die Reisebüromitarbeiterin endgültig eine Reise nach Bordeaux. Als das Reisebüro der Dame dann die schriftliche Reisebestätigung über eine Reise nach Bordeaux statt nach Porto übersandte, wollte diese jedoch nicht zahlen. Das AG Stuttgart-Bad Cannstatt entschied, dass doch ein Reisevertrag zustandegekommen sei und daher Zahlungsanspruch aus §§ 675, 670 BGB bestehe. Es begründete dies entsprechend dem verobjektivierten Empfängerhorizont wie folgt: „Versteht der Empfänger eine undeutlich gesprochene Erklärung falsch, so geht dies grundsätzlich zu Lasten des Erklärenden, der das Risiko dafür trägt, dass der Empfänger seine Worte auch erfassen kann.“

Böse Zungen behaupten nunmehr, dass viele Sachsen zu ihrer Verwunderung in der jemenitischen Hauptstadt Aden landen und nicht, wie eigentlich gewollt, in der griechischen Hauptstadt Athen und dadurch die Eurokrise ausgelöst haben. Daher mein Aufruf: Liebe Sachsen, lernt endlich Hochdeutsch, denn nur so können wir den Euro retten!!! 😉 Weiterlesen

Die Stofffülle – ein Problem der heutigen Juristenausbildung (Gastbeitrag von Studiendekanin Dr. Helga Wessel)

6 Sept

Frau Dr. Wessel ist die Geschäftsführerin der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, wirkt in Gremien auf Fakultäts-, Hochschul- und Landesebene mit und hat umfangreiche Erfahrungen in der Organisation von Studium und Lehre, in der Studienberatung und im Unterricht für Studienanfänger gesammelt.

Liebe Studentin, lieber Student,

haben Sie einen Vater oder Onkel, der in den siebziger oder achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts zum Juristen ausgebildet wurde (oder eine Mutter oder Tante – was unwahrscheinlicher ist, weil auf eine Frau seinerzeit ca. zehn Männer kamen)? Dann drücken Sie ihm oder ihr mal § 11 JAG NRW in die Hand. Den kennen Sie selbst nicht? Sollten Sie aber! Er listet über drei (!) Seiten im Hippel-Rehborn den Pflichtfachstoff auf, dessen Beherrschung von Ihnen im Examen erwartet wird. Ihr Ansprechpartner wird, wenn er halbwegs ehrlich ist, zugeben: Ganze Gebiete wie IPR, Verbraucherschutzrecht, Produkthaftungsrecht sind hinzu gekommen, vom Europarecht ganz zu schweigen. Gestrichen wurde dagegen nichts von dem, was früher schon als wichtig galt.

Anschließend können Sie gemeinsam diskutieren, in welchem Maße sich die zu den verschiedensten Gebieten ergangene Rechtsprechung, die Anzahl der „Meinungen“, der Anmerkungen und Aufsätze, Monographien, Lehrbücher und Kommentare, die Bedeutung der europarechtlichen Implikationen… und, und, und… in den letzten drei, vier Jahrzehnten vervielfacht haben mag. Voraussichtliches Fazit – die heutzutage Studierenden haben, wenn sie in allen Pflichtfächern fit sein wollen, eine deutlich größere Menge an Stoff zu bewältigen als früher.

In Erkenntnis dieser Situation hat das JAG sich durchaus um eine gewisse Eingrenzung des Pflichtfachstoffes bemüht. Es nimmt Zuflucht zu der einschränkenden Formulierung, zum einen oder anderen Rechtsgebiet würden nur Kenntnisse „im Überblick“ verlangt. Das ist eine wohlmeinende, aber für Sie ebenso wie für Lehrende und Prüfende wenig verlässliche Lösung. Auch die zusätzliche, mit Akribie angewandte Methode, aus den wichtigen Gesetzen diejenigen Gebiete zu benennen, die zu den Pflichtfächern gehören sollen und andere Gebiete damit auszugrenzen, scheitert in der Praxis des akademischen Unterrichts wie des Prüfungsgeschehens schon daran, dass die Bezüge zwischen den Teilbereichen, die „dazugehören“ und denen, die nicht dazugehören, vielfältig sind. Einzelne Paragrafen aus dem Pflichtfachkanon herauszuschneiden, bringt insgesamt wenig.

Auch die Vorgabe für die Pflichtfachklausuren, die lautet, sie sollten „…einen rechtlich und tatsächlich einfachen Fall betreffen, der dem Prüfling jedoch Gelegenheit gibt, seine Fähigkeit zur Erörterung von Rechtsfragen darzutun“, ist wenig tragfähig. Beispiele dafür, wie weit die Vorstellungen über einen „einfachen Fall“ auseinandergehen können, kennt jeder.

Alle im Gesetz getroffenen verbalen Einschränkungen sind nicht hinreichend geeignet, die seit Jahrzehnten angewachsene abprüfbare Stofffülle faktisch einzugrenzen und die Angst des Prüflings vor ihr zu verringern. Die Juristenausbildungsreform 2003 hat zu allem Überfluss weiteren Stoff hinzugefügt. Insbesondere tat sie das durch die Einführung der „Schwerpunktbereiche“. Sie übersteigen den Umfang der früheren „Wahlfächer“, wie Ihre Eltern sie kannten, um ein vielfaches. Entsprechend ist das für sie aufzuwendende Arbeitsvolumen nicht zu vergleichen mit dem, das für ein Wahlfach aufzuwenden war. Es kommt zu demjenigen für die Stofffülle der Pflichtfachprüfung hinzu. Dennoch erwartet das JAG, dass Sie die Vorbereitung auf beide Teile der Prüfung „in der Regel“ in der gleichen Zeit schaffen wie vor der Reform.

Gibt es eine Lösung?

Jeder Gesprächspartner, der sein Examen mehr als ein paar Monate hinter sich hat, wird Ihnen gestehen, dass er nicht mehr in allen Pflichtfächern fit ist. Weil das selbst bei brillanten Juristen so ist – und niemand das schlimm findet – spricht aus meiner Sicht wenig dafür, an der Angst machenden Gesamt-Prüfung über alle Gebiete des Rechts festzuhalten. Insbesondere würde ich Ihnen, liebe Studierende, wünschen, dass die unnatürliche Klausursituation der Lösung von konstruierten „Lebenssachverhalten“ ohne jedes im wirklichen Leben selbstverständliche Hilfsmittel seine Dominanz verlöre. Sie werden in Ihrem Berufsleben niemals einen „Fall“ in exakt fünf Stunden ohne Nachfrage zum Sachverhalt, ohne Diskussion mit einem Kollegen, ohne Blick in einen Kommentar lösen müssen. Das wird ausschließlich in der ersten Prüfung (und in hunderten Stunden zuvor, in denen Sie beim kommerziellen Repetitor oder im universitären Klausurenkurs eben dies trainieren), von Ihnen verlangt.

Wenigstens teilweise wäre Abhilfe geschaffen, wenn in der ersten Prüfung die Benutzung von Kommentaren wie im 2. Examen erlaubt würde. Der auf den Prüflingen lastende fachliche (und psychische) Druck ließe sich nach meiner Überzeugung damit deutlich verringern.

Wir an der Universität können das allerdings nicht für Sie regeln – das wäre Sache des Gesetz- oder des Verordnungsgebers. Denn die Pflichtfachprüfung ist nach wie vor staatliche Prüfung.

Aber lesen Sie ruhig noch einmal im JAG! Programmatisch steht da der schöne Satz:„Die Prüfung soll zeigen, dass der Prüfling das Recht mit Verständnis erfassen und anwenden kann und über die hierzu erforderlichen Rechtskenntnisse in den Prüfungsfächern… verfügt.“ Das hört sich so an, als seien Kenntnisse nicht das Wichtigste, und ermutigt immerhin zum Nachdenken darüber, welche (Lehr-? Lern-?)methoden dem Erfassen „des Rechts“ besonders dienlich sein könnten und wie man „Verständnis“ abprüfen kann. Durch einen allgemeinen Bewusstseinswandel, der darauf hinausliefe, noch stärker juristische Kernkompetenzen und deutlich weniger Einzelwissen zu lehren, zu lernen und zu bewerten, wäre wahrscheinlich auch das Problem der anwachsenden Stofffülle in den Griff zu bekommen.