Klarstellung unerwünscht: Pjöngjang, Washington und der Erstschlag

20 Mär

Gastbeitrag von Dr. Björn Schiffbauer

Nordkorea beherrschte wieder einmal die Schlagzeilen der Weltnachrichten. Es begann an einem Donnerstag Anfang März. Der Zeitpunkt könnte mit Bedacht gewählt worden sein, denn die Welt blickte noch nicht auf die Papstwahl, sondern war für düstere Nachrichten empfänglich. Eine dieser Nachrichten am 7. März 2013 war: Pjöngjang hat den USA einen atomaren Erstschlag angedroht. „Solange die USA einen Atomkrieg anstreben, haben unsere revolutionären Streitkräfte das Recht auf einen präventiven Atomschlag“, wird eine Sprecherin des nordkoreanischen Außenministeriums von der Nachrichtenagentur KCNA zitiert. Offenbar zur Stützung dieser Drohung sprach das Regime Presseberichten zufolge einen Tag später die Kündigung eines Nichtangriffspaktes mit Südkorea aus. (Es ist allerdings unklar, ob damit die wichtige Waffenstillstandsvereinbarung zur Beendigung des Korea-Krieges von 1953 oder – wahrscheinlicher – ein weniger prominentes Abkommen aus dem Jahr 1991 gemeint war.) Zudem kappte der Norden Kommunikationslinien mit dem Süden und forciert nun nach eigenen Angaben den Ausbau seines Atomprogramms umso dringlicher. All diese Gebärden fallen in eine Zeit, in welcher der UN-Sicherheitsrat seine Sanktionen gegen den kommunistischen Staat verschärft hat. Dies mag der politische Grund für solches Säbelrasseln sein; ob Nordkorea allerdings tatsächlich das Potential für einen Atomschlag besitzt, ist nach derzeitigem Kenntnisstand zweifelhaft. Gleichwohl hat dessen unverblümte Androhung weltweit für Unruhe gesorgt.

Südkorea zeigt sich zwar nach außen hin unbeeindruckt; an lautes Gepolter aus Pjöngjang hat man sich längst gewöhnt. Die ungewöhnliche Schärfe der Drohung indes dürfte man registriert haben, die Alarmbereitschaft im Süden ist wohl kaum gesunken. Auch die USA geben sich offiziell gelassen, werden aber dennoch ihr Raketenabwehrsystem an der gesamten Westküste mit nicht geringem Aufwand verstärken. Nordkorea, so scheint es, darf sich wohl doch ein wenig ernstgenommen fühlen.

Unabhängig von alldem ruft die vordergründig politische Polemik Nordkoreas in einem größeren Kontext aber vor allem das Völkerrecht auf den Plan. Immerhin wird ausdrücklich „das Recht auf einen präventiven Atomschlag“ beansprucht! Dem Wortlaut dieser staatlich zurechenbaren Äußerung ist zu entnehmen, dass Nordkorea glaubt, sich innerhalb der Grenzen völkerrechtlich legaler Gewaltanwendung zu bewegen, wenn es mit Atomwaffen gegen die USA vorgeht, ohne dass das Land selbst bereits Opfer eines bewaffneten Angriffs geworden wäre. Dies verlangt nach einer genaueren Betrachtung. Denn das Völkerrecht ist eine Rechtsmaterie, die sich ständig im Fluss befindet und durch von Rechtsüberzeugung getragener Staatenpraxis bestätigt, verändert und erweitert werden kann. Dies ist das Prinzip von Völkergewohnheitsrecht. Doch auch völkerrechtliche Verträge wie etwa die UN-Charta werden durch spätere Staatenpraxis in ihrer Auslegung häufig konkretisiert. Zu beidem könnte Nordkorea – womöglich ungewollt – durch seine jüngste Rhetorik beigetragen haben.

Die Erklärung des Außenministeriums liest sich vereinfacht so: „Wir dürfen die USA mit Atomwaffen angreifen, bevor sie das gleiche mit uns tun.“ Obwohl schlagzeilenträchtig, ist der nukleare Zusammenhang hier eher zweitrangig. Denn die Frage, ob Nordkorea „präventiv“ gegen die USA Gewalt anwenden darf, hat grundsätzlich nichts mit der Art und Beschaffenheit der eingesetzten Waffen zu tun. Zweifellos sind Atomwaffen das größte von Menschen geschaffene Übel; die ganze Welt könnte durch die Kraft der existierenden Nuklearsprengsätze pulverisiert werden. Jedoch stellte der Internationale Gerichtshof bereits 1996 in seinem Gutachten zur Legalität der Anwendung von Atomwaffen fest, dass deren Einsatz im Falle von Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta nicht prinzipiell untersagt ist. Vielmehr unterliegt die Form der Gewaltanwendung immer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zumindest wenn die Existenz eines Staates bedroht ist, könnten deshalb auch Atomwaffen zum Einsatz kommen. Ob dies auch im Falle Nordkoreas in Frage käme, darf stark bezweifelt werden. Die Erklärung des Außenministeriums impliziert dies allerdings, immerhin bemüht sie einen drohenden „Atomkrieg“. Einen solchen horribile dictu unterstellt, dürften wohl auch Atomwaffen zur Verteidigung eingesetzt werden.

Doch zurück zum zwischenstaatlichen Selbstverteidigungsrecht. Darf Nordkorea einer kolportierten amerikanischen Gewalthandlung mit eigener Gewalt zuvorkommen? Die völkerrechtliche Antwort auf diese Frage verbirgt sich im umstrittenen Institut der sogenannten „vorbeugenden Selbstverteidigung“. Seinen Ursprung hat dieses in einer anderen Zeit, gleichwohl aber an einem bekannten Ort: den USA. Im Jahre 1837 kam es zwischen dem noch jungen amerikanischen Staat und der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien zu einem gewaltsamen Zwischenfall auf dem Niagara-Fluss. Das Dampfschiff „Caroline“ wurde von britischen Truppen in Brand gesteckt und in den Niagara-Fällen versenkt, weil sich US-amerikanische Aufständische im Begriff befunden haben sollen, die damals britische Provinz Oberkanada anzugreifen. Die diplomatische Aufarbeitung dieses Vorfalls brachte eine nach dem US-Außenminister Daniel Webster benannte Formel hervor, nach der vorbeugende Gewaltanwendung legal ist im Falle einer „necessity of self-defense, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation“. Dieses Zitat hat Zeitwenden und Kriege überlebt. Noch heute wird es in Verbindung mit dem Selbstverteidigungsrecht aus Artikel 51 der UN-Charta wiedergegeben. Die heute herrschende Meinung im Völkerrecht erkennt demnach ein Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung an, wenn ein Angriff zeitlich unmittelbar bevorsteht oder aber es höchst wahrscheinlich ist, dass ein Angriff in jedem Moment stattfinden kann. Einfach ausgedrückt: Ein Angriffsobjekt muss nicht auf eine Verletzung warten, sondern darf den Auslöser eines ansonsten eintretenden Schadens gewaltsam beseitigen, wenn andere Mittel nicht in Betracht kommen.

Doch was bedeutet dies für Nordkorea? Wenn das Land von den Waffen der USA anvisiert wird, dürfen die Generäle um Kim Jong Un zuschlagen. Danach sieht es aber zur Zeit nicht aus. Obwohl die USA gemeinsam mit Südkorea regelmäßig Seemanöver an der koreanischen Halbinsel vollziehen, gibt es keine Anzeichen dafür, dass die USA – zumal in Eigenregie – Nordkorea attackieren würden. Dagegen spricht allein die in diesem Fall recht gute Kooperation mit den übrigen Vetomächten im UN-Sicherheitsrat, die man im Falle eines Alleingangs aufs Spiel setzen würde. Der Sicherheitsrat selbst dürfte hier eher das Zünglein an der Waage spielen: Bleiben seine Sanktionen weiterhin wirkungslos, könnte er zu noch härteren Mitteln greifen. Kapitel VII der UN-Charta ermächtigt ihn nämlich, eine Resolution zu erlassen, die zu einem gewaltsamen Eingreifen in Nordkorea ermächtigt. Käme es dazu, stünde zweifellos fest, dass Nordkorea mit einem Eingreifen fremder Staaten zu rechnen hat. Doch hätte es dann kein Selbstverteidigungsrecht, weil Resolutionen des Sicherheitsrats stets Vorrang haben.

Was auch kommen mag, die sachlichen Voraussetzungen für einen völkerrechtskonformen Erstschlag Nordkoreas liegen in diesen Tagen nicht vor. Da aber die Erklärung Nordkoreas dennoch rechtlich relevant ist und mit der herrschenden Meinung im Völkerrecht übereinstimmt, wird diese dadurch bestärkt. Denn, wie oben erwähnt, ist dies beachtliche Staatenpraxis für die Entwicklung (oder Festigung) einzelner völkerrechtlicher Institute.

Nun lohnt es sich, noch einen Schritt weiter zu denken. Denn nach der gegenwärtigen Tatsachenlage könnte das Pendel des vorbeugenden Selbstverteidigungsrechts nämlich in Richtung USA hinüberschwingen. Nimmt man die Erklärung Nordkoreas ernst, so ist deren Staatsführung jederzeit willens und bereit, einen (atomaren) Schlag gegen die USA einzuleiten. Ein solcher wäre eine völkerrechtswidrige Gewaltanwendung, nämlich ein klassischer bewaffneter Angriff nach Artikel 51 der UN-Charta. In diesem Fall stünde den USA das Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung unter den eben genannten Voraussetzungen zu. Die USA müssten also nachweisen, dass Nordkorea (entgegen bisheriger Erkenntnisse) das Potential für einen solchen Angriff besitzt und tatsächlich hinreichend konkretisierte Vorbereitungen getroffen hat, die nur in einen Angriff münden können. Die bisherige Kriegsrhetorik genügt für eine solche Annahme freilich nicht. Spannender würde es allerdings, wenn Nordkorea tatsächlich sein Atomprogramm nennenswert und schlagkräftig fortentwickelt sowie seine Feindseligkeit nach Außen unmissverständlich (etwa durch Abbruch bedeutsamer diplomatischer Beziehungen und sämtlicher Verhandlungen mit Drittstaaten) zum Ausdruck bringt. Käme es dazu, müsste die Sachlage wohl insgesamt noch einmal neu bewertet werden. Jedenfalls wäre ein amerikanischer Schlag (nur!) als letzter Ausweg rechtmäßig und dann gerade kein – völkerrechtswidriger – „preemptive strike“ gegen eine bloß potentielle Gefahr, wie man ihn aus den Doktrinen des Ex-Präsidenten Bush jun. kennt.

Nicht nur für Völkerrechtler wäre eine Reaktion der USA mit Spannung zu erwarten. Denn zwischen legaler vorbeugender Selbstverteidigung bei einem unmittelbar bevorstehenden Angriff und illegaler Gewalt gegen eine nur potentielle Gefahr besteht eine völkerrechtliche Grauzone, die durch Staatenpraxis einen entsprechenden Anstrich erfahren könnte. Entschließen sich die USA nämlich für ein gewaltsames Vorgehen gegen Nordkorea, ohne dass dessen Generäle die letzten Angriffsvorbereitungen getroffen hätten, würden sie dies gewiss mit dem besonderen Gefährdungs- und Schadenspotential von Atomwaffen begründen. In einem solchen Fall könnte das bisher gültige vorbeugende Selbstverteidigungsrecht nachhaltig ausgedehnt werden, indem die Legalität einer Intervention zusätzlich an dem Ausmaß des sonst zu erwartenden Schadens bemessen wird. Die anschließende Reaktion der Staatenwelt wird dann über die Rechtsentwicklung entscheiden. Zu befürchten ist allerdings, dass dies unter dem Eindruck – rechtswidriger, aber womöglich nuklearer – Vergeltungsschläge Nordkoreas geschehen könnte. Sogar die Völkerrechtler würden auf eine solche Rechtsklarstellung gerne verzichten.

Dr. Björn Schiffbauer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. Claus Kreß LL.M. (Cambridge) am Institute for International Peace and Security Law der Universität zu Köln. Seine 2012 erschienene Dissertation trägt den Titel „Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht“.

Eine Antwort to “Klarstellung unerwünscht: Pjöngjang, Washington und der Erstschlag”

  1. Michael Schieder 20. März 2013 um 15:37 #

    Danke Björn, für den sehr interessanten und äußerst informativen Beitrag, der ja nicht nur den Konflikt als solchen beleuchtet, sondern auch die daraus eventuell resultierenden völkerrechtlichen Konsequenzen aufzeigt.

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