Gestern habe ich mit einigen Teilnehmern meiner Arbeitsgemeinschaften eine Gerichtsverhandlung beim AG Köln besucht − genau wie den Besuch einer JVA halte ich so etwas für äußerst sinnvoll, denn hier sieht man mal wie ein Strafverfahren, das man ja nur mittelbar kennt, eigentlich in der Realität abläuft. Praktiker lesen ab hier am besten nicht weiter, weil ich mir vorstellen kann, dass das was ich hier gern problematisieren möchte „Alltagsgeschäft“, also nichts Besonderes ist − trotzdem:
Der Angeklagte hatte Mitte September 2011 zwei Pullover bei H&M (Gesamtwert: 79,80 €) gestohlen. Angeklagt war die Tat als räuberischer Diebstahl, weil der Angeklagte, vom Ladendetektiv außerhalb des Geschäfts gestellt, sich so aus seinem Rucksack gewunden hatte, dass der Detektiv den Eindruck bekam, der Angeklagte wolle ihn schlagen, um im Besitz der Beute zu bleiben. Nach der Zeugenvernehmung blieb vom räuberischen Diebstahl nur noch der Diebstahl übrig – allerdings ein besonders schwerer, weil der Angeklagte die Pullover in Alufolie gewickelt hatte, um so die Diebstahlsicherung zu überlisten (was auch funktionierte). Hierfür gab es 4 Monate Freiheitsstrafe mit Bewährung.
Nun mag man daran zweifeln, dass ein solches Sicherungsetikett um eine „Schutzvorrichtung gegen Wegnahme“ handelt, schließlich war die Wegnahme bereits mit Einpacken der Pullover in den Rucksack und der damit begründeten Gewahrsamsenklave vollendet, sodass das Etikett nicht die Wegnahme sondern die Beutesicherung erschweren sollten. Aber darum geht es mir gar nicht.
Ich frage mich aber, warum der Angeklagte wegen dieser Tat zweieinhalb Monate in Untersuchungshaft verbringen musste. Die Untersuchungshaft dient der Sicherung des Strafverfahrens, im konkreten Fall sollte sichergestellt werden, dass der Angeklagte nicht flüchtet. Klar: Der Angeklagte stammte aus Rumänien, was wohl zumindest abstrakt den Verdacht nahe legt, dass er sich dem Verfahren durch Flucht gen Heimat entziehen könnte (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Zumal es sich bei der ursprünglich angeklagten Tat um ein Verbrechen (§ 12 Abs. 2 StGB) handelte. Allerdings lagen die Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung mit Ausnahme des Alufolien-Tricks auch schon im Ermittlungsverfahren vor; man hätte also auch da schon auf die Idee kommen können, dass am Vorwurf des räuberischen Diebstahls nicht viel dran war. Und dann bleibt nicht mehr viel übrig: Nämlich der Diebstahl zweier Pullover im Wert von 79,80€! Bei Erlass des Haftbefehls muss das Interesse des Angeklagten, in Freiheit zu bleiben, gegen das Interesse der Allgemeinheit an der Durchführung des Strafverfahrens und die Gefahr, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entzieht abgewogen werden (§ 112 Abs. 1 StPO). Und hier, so meine ich, neigt sich die Waagschale doch sehr stark zugunsten des Angeklagten. Denn ob das Interesse an der Durchführung eines Verfahrens wegen einer solchen – ich glaube, man kann es so nennen – Lapalie es rechtfertigt, einen Beschuldigten zweieinhalb Monate in Untersuchungshaft versauern zu lassen, erscheint mir mehr als zweifelhaft…
Tja, da haben Sie den ganz normalen Wahnsinn erlebt. Es stellt sich aus meiner Sicht die Frage, wieso der Pflichtverteidiger nicht zeitnah die Haftfrage gestellt hat, in dem er mit Nachdruck die Entlassung seines Mandanten gefordert hat. Der ging wohl nach dem Motto vor: U-Haft schafft Rechtskraft. War wohl ein verurteilungsbekleidender Fachanwalt für Familienrecht.
Die Praxis geht bei Ausländern, insb. von außerhalb Kerneuropas, weitgehend von dem Haftgrund der Fluchtgefahr aus. Aber richtiger wird es dadurch natürlich eben nicht – übrigens genau so wenig wie der besonders schwere Fall des Diebstahls. Aber sicher eine lehrreiche Veranstaltung für die Praxis, weil man merkt, dass die Gesetze mit den Füßen getreten werden.
Das Regelbeispiel Überwinden einer Sicherung gegen Wegnahme i.S.d. 243 I 2 Nr. 2 ist beim Sicherungsetikett nach der wohl herrschenden Auffassung nicht erfüllt. Man könnte aber an ein unbenanntes Regelbeispiel denken, wenn Alufolie um das Etikett gewickelt wird. Dann geht zumindest der § 243 in Ordnung. Das Problem ist eben, dass der Täter doch etwas professioneller vorgegangen ist als ein bloßer Gelegenheitsdieb, der sich mal eine CD einsteckt.
Die Alternative zum Haftbefehl bei ausländischen Tätern (wenn denn deren Personalien echt sind und die Angaben zum Wohnsitz im Ausland stimmen….) ist eine Sicherheitsleistung. Bei Null Euro in der Tasche geht das schon mal nicht, § 127a StPO (keine Freiheitsstrafe zu erwarten UND Sicherheitsleistung).
Geht man von räuberischem Diebstahl in minder schwerem Fall aus, könnte man an eine Hauptverhandlungshaft nach 127b StPO erwägen. Zwar geht das nur bei einer Straferwartung von weniger als 1 Jahr (419 StPO) und einfacher Sachlage (also meist ohne aufwändigere Zeugenvernehmungen). Wenn es nur ein kleines Gerangel war,kann man aber gut und gerne an 249 II denken und das Ganze etwas schneller verhandeln. Eigentlich ist bei den meisten Großstadtgerichten derartiges vorgesehen, dort sitzt dann auch gleich die StA, es gibt eine JVA, schwieriger ist es bei den ländlicheren Amtsgerichten.´
Wundert mich etwas, dass das in dem Fall in Köln anders lief.