„In Süddeutschland gibt es kein Dorf ohne als Hexen verrufene Frauen“

3 Dez

Zur Verbreitung von Hexenglauben, LG Mannheim NJW 1979, 504 – Adventskalender (3)

Der Vorsitzende Richter Dr. Wolf Wimmer am LG Mannheim, aus dessen Feder das vorliegende Urteil stammt, ist ein Wiederholungstäter. 1997 schenkte er uns die Perle zur Glaubwürdigkeit des Pfälzers  (s. Türchen Nr. 4 Adventskalender 2012) und 1993 eine Studie der Marktpreise von Teufelsaustreibungen (s. Türchen Nr. 18 Adventskalender 2012). In der vorliegenden älteren Entscheidung konnte Dr. Wimmer wieder als Experte glänzen. Denn neben einschlägigen Aufsätzen (Parapsychologie, Wissenschaft und Rechtsordnung, NJW 1979, 587), verfasste er mit Otto Prokop das Buch “Der moderne Okkultismus” (1976).

„Die Privatkl. wirft der Privatbekl. Beleidigung, Verleumdung und vorsätzliche Körperverletzung vor, weil diese sie als „Hexe” und „Hure” bezeichnet und ihr mit einem Glaskrug blutende Verletzungen am Kopf zugefügt habe. Durch den angefochtenen Beschluß hat das AG das Privatklageverfahren gem. § 383 II StPO wegen Geringfügigkeit eingestellt. Die Beschwerde der Privatkl. hiergegen hatte Erfolg.

Der Erstrichter hat Beweis erhoben durch Vernehmung zweier Zeuginnen, die im wesentlichen das Vorbringen der Privatkl. bestätigt haben. Gleichwohl erscheint der Sachverhalt noch nicht soweit aufgeklärt, daß schon jetzt die Feststellung geringer Schuld bei der Privatbekl. getroffen werden kann, die § 383 II StPO erfordert. Fest steht lediglich, daß der Hexenaberglaube Ursache der unstreitig erfolgten Auseinandersetzungen gewesen ist. Unklar ist jedoch, ob die Privatbekl. subjektiv Anlaß zu solchem Wähnen haben konnte. Sie behauptet zwar, die Privatkl. habe ihr über einen „Hodcha” (Hexenbanner) 4 Zaubersprüche (musca) besorgt, um eine gewisse Kälte ihres Ehemannes zu beseitigen. Die Privatkl. bestreitet dies jedoch; ihrzufolge habe die Privatbekl. sie (die gar nicht an Hexen glaube) grundlos als Hexe verschrien.

In letzterem Falle aber wäre eine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld schon von der Motivation der Täterin her nicht gerechtfertigt. Zweifellos ist der Hexenglaube im nahen Orient der Gegenwart außerordentlich weit verbreitet (Kriss und Kriss-­Heinrich, Volksglaube im Bereich des Islam II, S. 12 ff.). Doch steht es auch hierzulande kaum besser. Nach der letzten einschlägigen Umfrage (1973) glauben 2% der Einwohner der Bundesrepublik fest an „Hexen” und weitere 9% halten Hexerei für möglich; in Süddeutschland gibt es sachverständigen Schätzungen zufolge kein Dorf ohne als Hexen verrufene Frauen (Schäfer, Der kriminelle Aberglaube in der Gegenwart, S. 36; Prokop, Medizinischer Okkultismus, 3. Aufl., S. 9). Es besteht also kein Grund, die gleichen abergläubischen Vorstellungen „weit hinten in der Türkei” anders und milder zu beurteilen. Wie der Prozeßbevollmächtigte der Privatkl. mit Recht ausführt, ist die Verdächtigung als „Hexe” auch für eine türkische Gastarbeiterin eine schwerwiegende Rufbeeinträchtigung, die sie in den Augen ihrer abergläubischen engeren Umwelt allmählich zur Verfemten und Geächteten macht, ständiger Feindschaft und Verfolgung aussetzt und schließlich nicht selten schweren Mißhandlungen oder gar Tötung zum Opfer fallen läßt, wenn nicht rechtzeitig und wirksam abschreckend gegen die Verleumdung vorgegangen wird (vgl. Schäfer, S. 30 ff.; grundlegend Kruse, Hexen unter uns?, passim).

Derartige Fälle, in denen Unschuldigen grundlos ein so schwerer Vorwurf angehängt wird einer „Hexe” trauen Abergläubische alles Schlechte und Böse, alle Unsittlichkeiten und Schandtaten zu ­, erfordern zum Schutz der Betroffenen notfalls nachhaltige Ahndung durch Strafgerichtsurteile (Auhofer, Aberglaube und Hexenwahn heute, S. 151 ff.; einhellige Meinung der Okkultkriminalistik, vgl. neuestens Schöck, Hexenglaube in der Gegenwart, S. 286 ff. m.w. Nachw.). Eine Einstellung des von der verleumdeten und mißhandelten „Hexe” angestrengten Privatklageverfahrens wegen Geringfügigkeit würde deshalb in vielen Fällen der Sachlage nicht gerecht, da hier schon angesichts der verschuldeten Auswirkungen der Tat keinesfalls von „erheblich unter dem Durchschnitt liegender Schuld” (…) gesprochen werden kann. Nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmesituationen, etwa wenn die der „Hexerei” Bezichtigte selbst die „schwarze Magie” ausübt, dürfte ein Bagatellfall vorliegen, der die Anwendung des § 383 II StPO begründet erscheinen läßt.

Da jedoch die bisherigen Ermittlungen für eine solche Feststellung nicht ausreichen, waren der angefochtene Beschluß aufzuheben und die Akten dem AG zur weiteren Verhandlung und Entscheidung zurückzugeben. Für das weitere Verfahren wird zu beachten sein, daß nach Sachlage eine restlose Aufklärung nur durch eine Hauptverhandlung zu erreichen sein wird, zu der, nebst Parteien und Augenzeugen, auch ein Sachverständiger für türkische Volkskunde geladen wird.“

In den nächsten Wochen werden wir jeden Tag im Stile eines Adventskalenders kuriose und witzige Urteile veröffentlichen. Bekannte Klassiker und Exoten, Mietrecht und Reiserecht können Türchen für Türchen entdeckt werden.

Kommentar hinterlassen